Linke Werte neu hinterfragt
In einem vieldiskutierten Beitrag für die ZEIT fragt der Literaturwissenschaftler Jan Freyn was von den einstigen Werten der Linken heute noch übrig ist. Seine Vorwürfe: Immer weniger Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Kritik, die aus einer erhöhten Position der Macht und Privilegien geäußert wird, moralischer Totalitarismus.
Das ist erst einmal Stoff zum Nachdenken. Ich habe mich sofort an ein paar Situationen erinnert, die genau das wiederspiegeln, was er beschreibt. Dabei kann ich nicht einschätzen, ob die von ihm genannten Tendenzen aktuell zunehmen und ob sie das ganze linke Spektrum betreffen – diese Einordnung überlasse ich gerne anderen. Immer wieder habe ich aber erlebt, dass gute Gedanken, die zu Ideologien werden, die gute Idee meistens ad absurdum führen.*
Veganerinnen, die sich – aus reiner Tierliebe – nur noch mit Menschen treffen, die auch vegan leben. Diskussionen zum Thema Vielfalt und Rassismus, die in Hasstiraden auf irgendwelche Politiker münden. Wissenschaftlerinnen, die die Abschaffung der Religionen fordern. Kapitalismuskritiker, die keinem trauen, der eine Immobilie besitzt. Alles schon gesehen. Und klar, ein solcher blinder Ideenglaube betrifft natürlich nicht nur die Linken: Konservative Christen wettern gegen den Islam. Kapitalismus-Fans finden, wer keine Arbeit hat, hat sich nicht genug angestrengt. Engagierte Vollzeitmuttis machen Working-Moms schlecht.
Vielen unterstelle ich in erster Linie gute Absicht. Doch gute Absichten rechtfertigen nicht den Einsatz von unfairen Mitteln. Das kritisiert Jan Freyn auch in seinem Artikel:
Das Problem der Linken besteht offenkundig nicht darin, dass sie sich den Reaktionären entgegenstellt (…). Sondern darin, dass sie diesen Kampf mit den zensorischen Instinkten führen möchte, die lange Zeit der politischen Rechten gehörten (anstatt an das selbstständige Urteil mündiger Menschen zu appellieren) und dass sie noch dazu die Klassendimension unterschlägt, die allen diesen Kämpfen inhärent ist.
Ganz wichtig finde ich seinen Hinweis auf die Klasse. Die Linken betreiben laut Jan Freyn Linken aktuell einen Klassenkampf „von oben“, „eine Rebellion der tadellosen Vier-Zimmer-Altbau-Bourgeoisie gegen das schrecklich vulgäre, unaufgeklärte und politisch unkorrekte Proletariat.“ Da ist was dran. So berechtigt die Kritik an zum Beispiel Rassismus, Gender-Ungerechtigkeiten und Alltags-Diskriminierung ist – gerne werden Klasse und Bildung als Diskussionsebene dabei vernachlässigt. Sehr viel Kritik geschieht von oben herab und nicht auf Augenhöhe. Sie ist dann zwar vielleicht gut gemeint, bringt aber nichts. Denn, um es mit Oscar Wilde zu sagen:
Good intentions have been the ruin of the world.
* Bei der Bundeszentrale für politische Bildung habe ich mal eine schöne Definition für Ideologie gefunden: „Der Begriff steht für sogenannte Weltanschauungen, die vorgeben, für alle gesellschaftlichen Probleme die richtige Lösung zu haben.“ (Leider existiert der Link nicht mehr)